VVK: 36,70 € inkl. Geb.
2020 war für Provinz ein „Trotzdem“-Jahr. Im Frühjahr mitten im aufkommenden Hype um ihre Band durch Corona bei voller Fahrt vom Karussell gerissen, platzierten sie im Sommer trotzdem ihr Debütalbum „Wir bauten uns Amerika“ sensationell auf Platz 4 der deutschen Charts. Durch die Kontaktbeschränkungen um ihre beiden restlos ausverkauften Touren des Jahres gebracht, hielten sie durch ausgewählte Picknick-Konzerte trotzdem so gut es ging den Kontakt zu ihren Fans. Und obwohl sie als Durchbruch-Bandvermeintlich um das Jahr ihres Lebens gebracht wurden, konnten Vincent, Robin, Moritz & Leon sich am Ende trotzdem über die Auszeichnung als „Bester Newcomer Act“ bei der 1LIVE Krone freuen.
Es passt also, dass der auferlegte Stillstand bei aller Enttäuschung über verpasste Möglichkeiten trotzdem etwas Gutes hervorbrachte: eine neue EP von Provinz. „Zu spät um umzudrehen“ heißt die 5-Track-Sammlung, erscheint am11. Juni und wird angeführt von der ersten Single „Hymne gegen euch“. Die wartet gleich mal mit einer handfesten Überraschung auf: Provinz werden politisch. Denn auch wenn 2020 auf eine Weise ein Jahr des gesellschaftlichen Stillstands war, war es doch auf eine andere doch das politisch unruhigste seit langer Zeit. Black Lives Matter, Querdenker-Demos, dazu die fortwährend schwelende Diskussion um eine nahende Klimakatastrophe–als reflektierter Mensch und junger dazu kann man in diesen Zeiten eigentlich gar nicht unpolitisch sein.
Das sieht auch Frontmann Vincent (22) so, der trotzdem beobachtet, dass „im Songwriting Gesellschaftskritik und politische Äußerungen immer noch eher selten“ sind. Auch bei ihm selbst: „Ich bin Fan davon, es allgemeiner zu halten, also nicht den Zeigefinger auf eine bestimmte Gruppe zu richten“. Dann jedoch kam er an einen Punkt, bei dem ihm schlicht der Kragen platzte: „Ich hatte einen Podcast gehört, in dem es um die Querdenker-Bewegung ging. Da hat mich zum Teil die Wut gepackt und ich dachte: jetzt ist es an der Zeit, sich zu äußern.“
Das tun Provinz in „Hymne gegen euch“ auf gewohnt mitreißende Weise. „Was, wenn ich dir sage, du bist nicht alleine / du bist wütend und wirfst keine Steine / Sie sagen die Jugend ist deprimiert / Sie sei an Politik nicht interessiert“, nimmt Vincent ein gängiges Vorurteil über die Gen Z auf. „Sie meinen weiter, jeder kämpft alleine / Aber wieso sind wir dann so viele“, begehrt er auf, und spätestens als das tief geschlagene Piano-Intro in einen peitschenden Beat übergeht, ist das Feld für den nun folgenden Schlachtruf bereitet: „Aus stummem Protest wird eine Horde / Das sind mehr als nur Worte (…) / Hörst du die Schüsse in der Luft / Ja das ist mehr als ein Geräusch / Das ist kein Lied für uns / Das ist ‘ne Hymne gegen euch“, ruft er, während sich drängende Pianoakkorde in hymnischer Instrumentierung und dramatischem Backgroundgesang ergießen.
„Der Song soll knallen“, begründet Vincent die drastische Atmosphäre des Songs. „Er soll die Leuteaufwecken, die denken, sie hätten kein Recht dazu, sich jetzt zu äußern, weil sie sich vielleicht nichthundertprozentig auskennen. Die derselben Meinung sind, aber kein Ventil finden und nicht so richtig wissen: Was mache ich jetzt? Wie soll ich mich verhalten? Denen will ich damit eine Stimme geben“, so der Provinz-Frontmann, dessen „Hymne gegen euch“ sich gegen all jene richtet, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind: „Sie kennen nur ihren Tellerrand / Glaubst du, meine Kinder wollen auch grünes Gras / Sie reden von Karriere, sind Fähnchen im Wind / Wann wechselt das Wetter“. Neben „Hymne gegen euch“ glänzen Provinz auf der EP mit all dem, was sie zu einer der besten deutschen Newcomerbands der letzten Jahre gemacht hat: Große, ungefilterte Coming-of-Age-Gefühle treffen auf mitreißend direkte Texte, rauschende Indie-Hymnen auf organisch instrumentierte Produktionen, der Hunger auf die große weite Welt auf die Angst, das vertraute familiäre Umfeld zu verlassen–Letzteres manifestiert in „22 Jahre“, der schönsten Mutter-Ode seit Kanye Wests „Hey Mama“. Produzent der EP ist erneut Tim Tautorat (u.a. AnnenMayKantereit, Faber), was einerseits für den wiedererkennbaren Provinz-Sound sorgt. Andererseits jedoch klingen die Produktionen teils deutlich progressiver, was Vincents Vorarbeit mit einem Kumpel gedankt ist, dem bekannten Songwriter, Musikproduzent, Sänger und Multiinstrumentalisten Fayzen.
„Nachdem wir ‚Wir bauten uns Amerika’ veröffentlicht hatten, war irgendwie gar nichts mehr los und kein Druck da“, erinnert sich Vincent an die Zeit im Spätsommer. „Ich konnte ein bisschen drauflos schreiben und war im Studio bei Fayzen in der Nähe von Hamburg. Normalerweise schreibe ich immer allein, aber wir haben es dann mal gemeinsam ausprobiert und es hat krass gut funktioniert. Ich habe zum Beispiel ein paar Akkorde gespielt und ein bisschen was gesummt und er hat es aufgenommen, derweil habe ich dann meine Notizenvollgeballert und er hat mit den Sounds gebastelt. Und dann haben wir es wieder zusammengefügt und so weiter. Wir haben einfach ausprobiert und ganz wilde Sachen gemacht.“ All das wäre nicht passiert, wären Provinz im September wie geplant auf Tour gewesen. Das Trotzdem-Jahr 2020, es hatte auch seine guten Momente.
Foto © Mike Kipper